
Gewaltige Kulisse: Vor 110 000 Fans gewannen die Däninnen 1971 in Mexiko den WM-Titel. Foto: Scanpix / Keystone
Pionierinnen
Die WM,
die nie war
Einmal wurden sie um den Sieg gebracht. Und einmal um die Teilnahme. Die bittersüsse Geschichte der Schweizerinnen und der ersten Weltmeisterschaften.
Andrea Bleicher – Text
Im Juli 1970, als die Welt noch von der dramatischen Rettung der Apollo-13-Crew sprach und im Radio «In the Summertime» von Mungo Jerry auf und ab lief, sass Mirella Cina auf einem Bolzplatz in der süditalienischen Stadt Salerno. Es ging ihr schlecht: «Ich hatte mich im Training total verausgabt. Weil ich unbedingt spielen wollte.»
Cina, 16 Jahre alt, Basketballtalent aus dem Wallis, war Teil des Teams, das der umtriebige Trainer Jacques Gaillard einige Wochen zuvor zusammengestellt hatte. Aber nicht um Körbe zu werfen, nein, sie sollte für die Schweiz an der ersten Weltmeisterschaft im Frauenfussball im Tor stehen.
Was dann folgte, ist eine Geschichte, so fantastisch wie unrühmlich. Eine Geschichte, wie nur das Schicksal sie schreiben kann, wenn es gerade ein besonders mieser Verräter ist.
Begonnen hatte Mirella Cinas Fussballkarriere mit einem Zufall. Die Schülerin war auf dem Nachhauseweg, als ihr eine Freundin über die Strasse zurief: «Willst du nicht auch mal zum Fussball kommen?» Sie antwortete: «Klar, wenn ich Goalie sein kann.» Die Freundin war Madeleine Boll, die 1965, im Alter von 12 Jahren, als erste lizenzierte Fussballerin weltweit für Schlagzeilen gesorgt hatte. Ein Versehen, das vom Fussballverband umgehend korrigiert wurde. «Aus gesundheitlichen Gründen» sollten Mädchen nicht Fussball spielen. «Zu gefährlich», glaubte man. Der Fussballsport, so der Zentralvorstand, sei «nichts für empfindliche Wesen.»
Die Walliserin Mirella Cina war 16, als sie 1970 für die Nati debütierte.
Nur sahen diese das anders. Bald fanden sich Boll und weitere Mitstreiterinnen zu einem Verein zusammen. Der FC Sion Féminin war eine der ersten Frauenmannschaften der Schweiz überhaupt, 1968 gegründet, ein Experiment, wie die Medien schrieben. «Wir waren richtige Strassenkickerinnen. Schnell, wendig, technisch versiert», sagt Cina. «Wir waren gut, wirklich gut.» So gut, dass man sich auf internationaler Ebene mit anderen Teams messen wollte.
Da kam es wie gerufen, dass eine Gruppe italienischer Geschäftsleute Grosses vorhatte. Mit dem Turiner Spirituosenhersteller Martini & Rossi als Sponsor, planten sie ein Turnier, wie es die Welt zuvor noch nicht gesehen hatte: ein Aufeinandertreffen der Besten, eine Weltmeisterschaft für Frauen. Dafür hatte man zuvor eigens die Federazione Internazionale Europeo di Football Feminile gegründet – einen unabhängigen Verband zur Förderung des Frauenfussballs. Acht Nationen, so die Idee, sollten um den Titel kämpfen. Kaum angekündigt, ätzte die NZZ: «Die ‹Fussball-WM› steht vor der Tür. Vom Unsinn des Damenfussballs.»
Dass sich jedoch «unabhängig» vor allem auf die Beziehung des Veranstalters zum Weltfussballverband, nicht aber auf kommerziellen Interessen bezog, zeigte sich bei der Auslosung der Gruppenspiele. Deren Resultat wurde gleich wieder annulliert, glaubten die Organisatoren doch, der Weg von Gastgeber Italien ins Finale sei zu beschwerlich. Stattdessen wurde festgelegt: Die Italienerinnen sollten in der Vorrunde auf die vermeintlich schwachen Schweizerinnen treffen. Sowohl die Schweiz als auch England protestierten heftig gegen die Einflussnahme. Vergeblich.
Davon ahnten die Spielerinnen freilich nichts. 22 Stunden dauerte die Anreise ans Tyrrhenische Meer, die Stimmung war trotz der anstrengenden Fahrt im Schlafwagen ausgelassen. Und dann standen sie auf dem Platz: die Pionierinnen des Schweizer Fussballs, in zu grossen Trikots, geerbt von den Männern. Die Löcher in der Ausrüstung hatten sie am Vorabend noch eilig gestopft. Während der Nationalhymnen hielten die Spielerinnen die weiten Shorts hinter dem Rücken fest, um halbwegs passabel auszusehen.
Aber die Kulisse!
10 000 Menschen hatten den Weg ins Stadio Donato Vetusti gefunden. «Es war der Wahnsinn», erzählt Mirella Cina. Ein Wahnsinn, bei dem sie zuschauen musste. Trotz des harten und, wie sie sich erinnert, guten Trainings, hatte sich Coach Gaillard entschieden, nicht auf sie als Torhüterin zu setzen. «Er meinte, ich sei noch so jung, es kämen noch viele Chancen. Es war das einzige Länderspiel, bei dem ich nicht die Nummer 1 war.»
So sah sie von der Seitenlinie, wie ihre Kameradinnen ein Spiel, das sie dominierten, trotzdem verloren. Aberkannte Tore, seltsame Abseits-Pfiffe, fragwürdige Foul-Entscheide. 2:1. Das Aus.
Ein mitgereister Reporter des «Thuner Tagblatts» hielt fest: Die Niederlage habe «die Mädchenmannschaft» um Madeleine Boll («Köbi Kuhn der Damen») nur hinnehmen müssen, «weil es der Schiedsrichter und vermutlich die Organisatoren» so wollten. «Sie hatten den besseren und schöneren Fussball gespielt. Sie waren ihren italienischen Kolleginnen krass überlegen. Sie spielten sogar einen ganz akzeptablen Fussball.»
Später, erzählt Cina, habe der Schiedsrichter gestanden, dass er den Titel «Unparteiischer» in dieser Partie keineswegs verdient habe. «Die Zuschauer wussten, dass wir das bessere Team waren. Sie feierten uns. Auf dem Parkplatz vor dem Stadion drängten sie sich um uns. Es dauerte sicher 30 Minuten, bis wir losfahren konnten.» Ein Fan malte ihr ein Bild. Öl auf Leinwand. Im Vordergrund Mirella Cina, im Hintergrund die Bucht von Salerno.
Finanziell hatte sich die Veranstaltung für die Organisatoren aber gelohnt. Trotz der Eingriffe in das Geschehen – oder gerade deswegen. Das weckte neue Begehrlichkeiten. Man wollte ein noch grösseres, spektakuläreres Turnier veranstalten. In Mexiko, wo die Männer eben ihre Weltmeisterschaft gespielt hatten. Auch die Schweizerinnen sollten dabei sein.
Bloss war die «Schweizerische Damenfussball-Liga», wie sie hiess, inzwischen dem Fussballverband unterstellt – und brauchte jetzt dessen Erlaubnis.
«Wir bitten um Ihre Genehmigung, diese Einladung annehmen zu können», schrieben Vertreter der Frauenliga am 9. Januar 1971 in einem Brief an die Verbands-oberen. Die Schweiz habe «exzellente Spielerinnen», ein «Team, das zu den besten in Europa» gehöre, plädierten sie. Und überhaupt, für die Entwicklung des Schweizer Frauenfussballs seien internationalen Begegnungen essenziell.
Bei einer Aussprache in Sion lobbierte die Damenliga erneut. Sieben Stunden dauerte die Sitzung. Ueli Bayer, damals Sekretär der Damenliga, erinnert sich: «Wir haben gekämpft. Weil wir wussten, was das für eine Gelegenheit für die Spielerinnen darstellte. Aber es kam ein klares Nein. Wir waren sehr enttäuscht.» Das Teilnahmeverbot war gesprochen.
Die Zeitung «Die Tat» berichtete zwar, dass einige Frauensektionen drohten, aus dem Fussballverband auszutreten, «um wild in Mexiko» zu spielen. Gefahren ist aber niemand. So fand die zweite Weltmeisterschaft ohne die Schweizerinnen statt.
Im ausverkauften Aztekenstadion begeisterten andere Fussballerinnen die Menge. 110 000 Fans kamen, um das Finale zu sehen. Dänemark gewann, die 15-jährige Susanne Augustesen schoss alle drei Tore. «Das Finale hatte alles, Publikum, Sponsoren. Wir dachten, das ist es. Der Frauenfussball hat es geschafft», so die englische Stürmerin Chris Lockwood.
Sie sollte sich irren.
Der Erfolg der Pionierinnen wurde eingedämpft. Der britische Verband sperrte die englischen Teilnehmerinnen. Und auch in Mexiko griff die Fifa ein. Frauen wurde es verboten, in offiziellen Stadien zu spielen. Land um Land wandte sich von den italienischen Veranstaltern ab, das nächste Turnier, das in Spanien ausgetragen werden sollte, fand nie statt.
Bis zur ersten vom Weltverband Fifa organisierten Frauen-WM sollten noch 20 Jahre vergehen.
«Die Erfahrung ihres Lebens» habe sie durch das Wegbleiben 1971 verpasst, erzählte Madeleine Boll vor Kurzem in einem Interview. «Es tut heute noch weh», sagt sie, wenn sie daran denke, dass 100 000 Zuschauerinnen und Zuschauer im Aztekenstadion waren. Und Mirella Cina ergänzt: «Wir waren ein so gutes Team, da wäre einiges möglich gewesen.»
Coach Gaillard, sonst so weitsichtig, lag also falsch. Mirella Cina spielte nie bei einer Weltmeisterschaft. 17 Mal lief sie für die Nationalmannschaft auf, zog nach Deutschland, trainierte ein Frauenteam in der Bundesliga und eröffnete ein Fitnessstudio.
Den Fussball, ihre alte, grosse Leidenschaft, verfolgt Cina immer noch im Fernsehen und manchmal im Stadion. Vorausblickend hatte sie schon 1977 geschrieben: «Die Frau, die sich für diesen Sport entschieden hat, wird ihn nicht wegen einiger ironischer Bemerkungen aufgeben. Die Befriedigung, die sie in ihrer Selbstverwirklichung findet, lässt sie nicht zweifeln.»
Und auch Mexiko hat Cina noch nicht ganz aufgegeben. «Nächstes Jahr findet das Eröffnungsspiel der Männer-WM im Aztekenstadion statt. Vielleicht lädt uns der Fussballverband ja dazu ein. Als Wiedergutmachung.»
Sie lacht. Und meint es doch ernst.